Die gute Tante

Humoreske von Paul Bliß
in: „Der Deutsche Correspondent” vom 31.03.1901


Alljährlich gab Karl Winter seinen Freunden ein intimes kleines Atelierfest. Zehn bis zwölf lustige junge Leute wurden dazu geladen.

Auch in diesem Winter sollte ein so intimes kleines Fest gefeiert werden. Eben war Karl dabei, mit Hilfe seiner Haushälterin die letzten Vorbereitungen dazu zu treffen, als der Postbote ein Telegramm brachte.

Kaum hatte Karl einen Blick hinein gethan, als er es auch schon wüthend zerknüllte und in die Ecke warf. „Das hat mir ja auch gerade noch gefehlt!” rief er ingrimmig.

Verwundert sah ihn die alte Haushälterin an. „Mein Gott, Herr Professor, weshalb erschrecken Sie einen denn so?” fragte sie zitternd.

„So'n Pech kann auch nur ich allein haben!” rief er tobend.

Inzwischen hatte Frau Helbig das Papier aufgehoben und den Inhalt gelesen. „Gott ja,” sagte sie nun, „es ist ja fatal, daß Ihre Tante auch gerade heute kommen muß, das aber ist doch kein Grund, deshalb sich so toll zu geberden; Sie werden die alte Dame von der Bahn abholen, werden sie in ihr Hotel geleiten und dann sich für heute Abend von ihr verabschieden.”

„Sie kennen die liebe Tante nicht! Wenn die mich erst mal da hat, dann läßt sie mich nicht wieder los!”

„Aber wenn Sie ihr sagen, daß Sie Ihren Freunden heute Abend ein Fest geben —”

„Dann will sie es mitmachen!”

„Nun gut, dann führen Sie sie her.”

Karl sah die Alte an. Dann lachte er laut auf: „Weiter hat mir ja gar nichts gefehlt! Nein, meine liebe Frau Helbig, das machen wir denn doch nicht! Ich werde sie von der Bahn abholen, werde sie in ihr Hotel bringen, und dann — ja, dann muß ich zu irgend einer Nothlüge greifen, um für heute Abend frei zu kommen; morgen und die folgenden Tage will ich mich ihr gerne widmen, so schwer es mir auch werden wird, denn die liebe Tante ist wunderlich, sehr wunderlich!”

Und dann machte er eiligst Toilette, denn es war hohe Zeit, um noch zum Zuge zurecht zu kommen.

Wüthend sprang er in die erste Droschke, die er traf und fuhr zur Bahn. Einer Erbtante darf man keine Bitte sbschlagen.

Kaum war er angekommen, als der Zug auch schon einlief.

„Karlchen! Karleman!” scholl es ihm aus einem offenen Wagenfenster entgegen. „Hier mein Jungchen! Hier bin ich!” Und ein langer Arm winkte ihm mit einem Muff eilig zu.

Das war der Empfang. Das kann ja gut werden, dachte er, nahm sich aber zusammen und machte ein ganz harmloses Gesicht.

Eine Minute später lag sie in seinem Arm, und ehe er sich recht besann, fühlte er sich umschlungen, bekam ein paar herzhafte Küsse, und war ganz in der Gewalt der lieben Tante. „Na, mein Jungchen, das ist doch 'ne Ueberraschung, wie?”

„Allerdings, Tantchen,” entgegnet er nur.

„Ja, solche Ueberraschungen liebe ich!” jubelte sie weiter, „und diesmal bringe ich noch 'ne besondere Neuigkeit mit — aber davon später — jetzt bist Du wohl so gut und besorgst erst mein Gepäck, nicht wahr?”

„Gewiß, Tantchen.” Er athmete auf, nahm den Schein und überlieferte ihn einem Gepäckträger; dann kletterte er in den Wagen hinein, der inzwischen leer geworden war und schleppte eine Reisetasche, eine Hutschachtel, ein Plaid, eine Wärmflasche, einen Regenschirm und einen Blumenstrauß hervor. So beladen, gelangte er glücklich wieder auf den Bahnsteig. Er seufzte. Jetzt nur schnell in eine Droschke, damit kein Bekannter dich sieht! dachte er und steuerte dem Ausgange zu. — Mit Noth und Mühe kamen sie nebst all den Gepäckstücken in eine Droschke, deren Kutscher lächelte, als er den so bepackten jungen Mann herauskeuchen sah.

„Na, wie geht's denn nun, mein Jungchen? Hast Du auch immer gut zu thun?” fragte Tantchen besorgt, als der Wagen sich endlich schwerfällig fortbewegte. — „Gott, man quält sich eben redlich,” meinte er etwas kleinlaut, „leicht gemacht wird es einem nicht, das kannst Du glauben, Tantchen.”

Sie nickte zustimmend: „Das glaube ich wohl, mein Jung', aber das ist doch nun mal nicht anders, wir haben uns ja alle quäken müssen; na und so lange man jung ist, arbeitet man ja auch gern, nicht wahr?”

Der Wagen hielt. Man war vor dem bescheidenen Privathotel, das Tantchen immer aufzusuchen pflegte, wenn sie nach Berlin kam.

Jetzt begann die Ausladung. Hausknecht Portier und Kellner wurden beladen. Dann begann Tantchen mit dem Kutscher zu handeln.

„Wat?” rief der Rosselenker, „handeln wollen Sie ooch noch; in Berlin jiebt et so wat nich!” — „Die Kutscher haben ja ihre Taxe,” flüstert Karl ihr zu.

Auch im Hotel war sie schon bekannt — vermuthlich hatte sie beim vorigen Besuch mit den Trinkgeldern geknausert. Als man nach vielem Hin und Her endlich ein Zimmer gefunden, und Karl sie gut aufgehoben wußte, hielt er es an der Zeit, sich nun zu empfehlen. Er zog ein Taschentuch heraus, hielt es an die Backe und sagte: „Nun, liebes Tantchen, bist Du ja gut untergebracht, und deshalb hast Du wohl die Güte, mich heute zu beurlauben. ich habe nämlich einen wahnsinnigen Zahnschmerz.”

Aber da kam er schön an. „Was, jetzt willst Du fort? Jetzt mich allein lassen? Nein, das dulde ich nicht!” rief sie.

„Es thut mir ja selbst außrordentlich leid, Tantchen! aber ich habe entsetzliches Zahnweh, ich möchte sehen, ob ich einen Arzt treffen kann.”

In diesem Augenblick kam der Oberkellner in's Zimmer.

„Hören Sie, Herr Oberkellner,” fuhr Tantchen auf ihn los, „giebt es nicht hier in der Nähe einen guten Zahnarzt?”

„Gewiß, gnädige frau, sogar hier unten im Hause — ein sehr tüchtiger junger Arzt — er ist zufällig unten im Gastzimmer.”

„Gut. Dann melden Sie uns bitte an; wir möchten ihn gleich konsultiren.”

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